22.08.07

felsenpfad
Yngwie - 22. Aug, 21:37

Schwindelfrei

Es war wie die letzte Einstellung eines Spielfilm-Dramas aus den 50ern. Ich sah den Felsen durch Nebel, das Licht war gleißend und immer wieder spritzte die Gischt weit an den Klippen hinauf. Die paar Touristen, die hier waren, schauten aufs Meer hinaus, versuchten Schiffe auszumachen oder markante Punkte auf der anderen Seite der Bucht.

Ich war lange nicht hier gewesen, aber solche Orte verändern sich nicht. Der Weg zum Drachenkopf hinaus bekommt vielleicht mal ein neues Geländer, aber sonst bleibt alles beim Alten. Das ist so schön an diesen Orten, man kann die Gefühle von früheren Besuchen wieder beleben, man kann den Menschen wieder beleben, als der man schon mal dort war - oder ihn endgültig begraben.

Mir fällt die Szene aus Vertigo ein, die an einer ähnlichen Küstenstelle spielt. Kim Novak legt wie in Trance ihren Finger an eine Stelle dieses riesigen Baumstumpfes. Auf einen der mittleren Jahresringe und sagt „Hier bin ich geboren.“ Langsam hebt sie den Finger und legt ihn einige Ringe weiter außen sanft wieder ab „Und hier bin ich gestorben.“ James Steward sieht sie mit fassungslosem Entsetzen an – er ist ein Meister des fassungslosen Entsetzens.
Ich bekomme eine leichte Gänsehaut. Toller Film. Und so passend, gerade jetzt. Ich wusste, dass ich wieder kommen würde, um das hier zu Ende zu bringen. Schade, dass es so lange gedauert hatte, ich hätte mich gerne schon früher davon befreit.

Ich habe mich an die Helligkeit hier draußen gewöhnt, überquere jetzt die schmalste Stelle des Pfades zum Drachenkopf. Hier beginnen einige sehr weit auseinander gezogene Stufen, die in die schmale Aussichtsplattform münden. Eine kleine Gruppe lachender Jugendlicher verlässt den Felsen gerade, im Vorübergehen streift mich eine der jungen Frauen. Ungefähr so alt war ich damals, hatte das Haar genauso kurz wie sie.
Die Stimmen entfernen sich, nun bin ich allein hier draußen.
Nach ein paar ruhigen Atemzügen ziehe ich das kleine Päckchen aus der Tasche. Ich wiege es einen Moment in der Hand, es kommt mir schwer vor. Dann hole ich aus. Weitwurf war nie meine Stärke, aber hierfür reicht es. Ich sehe das Bündel erst in den Himmel fliegen, dann eine Kurve beschreiben und im Wasser verschwinden. Ich hatte beim Eintauchen eigentlich ein sattes Geräusch erhofft, aber die Brandung ist zu stark.
Ohne noch innezuhalten drehe ich mich um, und gehe erleichtert davon.

Kim Novak hat den armen James ganz schön verarscht.

Narendranath - 22. Aug, 21:49

Auch wenn die Sonne schon hoch stand, war es sehr frisch und Tashi zog seinen Kimono enger. Der Weg auf dem Berggrat war längst kein gefährlicher mehr - vor Jahren hatte der Abt die ganze Strecke ebnen und ein Geländer anbringen lassen. Der Weg war sehr kunstvoll geworden, gewundene Strecken an der einen Stelle, an anderer Stufen unterschiedlicher Länge und Höhe. Mönche hatten ihn entworfen und gebaut und sich viel dabei gedacht und auf alles Rücksicht genommen. Der Weg zur uralten Zeder war in fast jeder Hinsicht perfekt, ein hervorragend eingepasstes Kunstwerk.

Aber das eben war sein Mangel - ihn zu schaffen war eine große Leistung gewesen, ihn zu benutzen nicht. Tashi war an der Zeder angekommen und blickte auf die Wolkendecke, die ihn nahezu umringte und in der gleißenden Sonne beinahe wie das Meer aussah. Er hatte auch das Meer kennengelernt, bevor er hierher kam. Vom Kloster hörte er die Glocke schlagen und er begann reflexartig mit der Rezitation der alten Verse.

Seine Stimme hob sich und durch die mühsam erlernte Atemtechnik gewann sie immens an Volumen und widerhallte von den Felsen, die unter den Wolken lagen. Es war nicht mehr seine Stimme - dieses Hallen, dieses Klingen war mehr als er. Vor weit mehr als zweitausend Jahren hatte Meister Shaoshan diesen Ort gefunden und verweilte hier in den kalten Bergen sieben Menschenalter. Dann kamen die ersten Schüler, die das Kloster erbauten und von Meister Shaoshan unterrichtet wurden. Sie waren bereits ergraut, als der Meister sie für befähigt hielt, nun selbst unterrichten zu dürfen - solange bis er wiederkäme.

Tashi senkte seine Stimme und langsam ebbten die Echos ab zu einer geisterhaften Stille. "Junge, Du blökst wie ein Ochse mit Darmwinden" lachte ein alter Mann, aus dem Schatten der Zeder tretend.

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